Susanne Gössl: Binär war gestern – das Personenstandsrecht muss ein drittes oder gar kein Geschlecht vorsehen


Das BVerfG hat mit Beschluss vom 10.10.2017 darüber entschieden, ob neben den Geschlechtseintragungen „männlich“ und „weiblich“ auch eine positive dritte Eintragung verfassungsrechtlich geboten sei. Anders als der BGH[1] geht das Gericht davon aus, dass das geltende Recht eine solche Möglichkeit vorsehen müsse, jedenfalls, wenn an sich eine Geschlechtserfassung nach § 21 I Nr. 3 PStG verpflichtend sei.[2]

I. Recht auf Schutz der Geschlechtsidentität

Die Entscheidung überträgt konsequent die Rechtsprechung zum Recht auf Schutz der Geschlechtsidentität, wie es seit den 1970er Jahren kontinuierlich vom Bundesverfassungsgericht bezogen auf transsexuelle Personen konkretisiert wurde, auf intersexuelle Menschen: Art. 1 I i.V.m. Art. 2 I GG, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, schützt in seiner spezifischen Ausprägung des Rechts auf Schutz der geschlechtlichen Identität das Recht eines jeden Menschen, „dem Geschlecht zugeordnet zu werden, dem er nach seiner psychischen und physischen Konstitution zugehört“.[3] Bereits der personenstandsrechtlichen Erfassung, die primär die materielle Rechtslage spiegelt, kommt Eingriffsrelevanz zu.[4] Ein binäres Eintragungssystem, welches keine dritte Eintragungsoption vorsieht, greift in dieses Recht ein, jedenfalls soweit eine Eintragungspflicht besteht.[5] Eine offen gelassene Eintragung nach § 22 III PStG bildet nicht ab, dass die betroffene Person sich nicht als geschlechtslos versteht.[6]

II. Ungleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 3 GG

Auch liegt eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 3 III GG vor.[7] Personen, die ausschließlich männlich oder ausschließlich weiblich sind, können ihr Geschlecht positiv, eben als männlich oder weiblich, erfassen lassen. Personen, die weder ausschließlich männlich noch ausschließlich weiblich sind, haben nur die Option, ihr Geschlecht als positiv männlich oder weiblich erfassen zu lassen, also ein Geschlecht, dem sie gerade nicht (ausschließlich) angehören, oder die Eintragung offen zu lassen. Eine offengelassene Eintragung ist aber nicht das gleiche wie eine positive Eintragung. Erstere behandelt die Person so, als hätte sie gar kein Geschlecht oder als sei die Eintragung vergessen worden.[8]

III. Kein Rechtsfertigungsgrund

Es greift, nach Verständnis des BVerfG, kein Rechtfertigungsgrund, der die o.g. Eingriffe/Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte. Ein fundamentaler Grundsatz der binären Geschlechtserfassung werde vom GG nicht verlangt oder vorausgesetzt und da eine Abweichung von diesem Grundsatz auch keine Belange Dritter beeinträchtige, sei nicht ersichtlich, warum ein solcher Grundsatz bestehen sollte.[9] Mangels sonstiger Rechtsfertigungsgründe liegt eine ungerechtfertigte Beschränkung vor, hieraus ergibt sich die Unvereinbarkeit mit der Verfassung.

IV. Folgen

Bis Ende 2018 hat der Gesetzgeber Zeit für eine Neuregelung. Er kann die Pflicht beseitigen, das Geschlecht einzutragen, oder eine positive dritte Eintragungsmöglichkeit schaffen. Die Pflicht zur Geschlechtseintragung gänzlich abzuschaffen, brächte faktisch eine Reihe von Komplikationen mit sich, für die Verwaltung, aber auch für Betroffene im internationalen Rechtsverkehr.[10] Eine Reihe von Register- und Melderegelungen sehen vor, dass das Geschlecht zu registrieren ist und knüpfen organisatorische Folgen hieran, sodass das gesamte System technisch überarbeitet werden müsste.[11] Auch ist weiterer Vorteil der Geschlechtsregistrierung, dass statistische Daten vorhanden sind, die etwa Grundlage von geschlechtsspezifischen Anti-Diskriminierungsmaßnahmen sein können. Dies käme auch einem „dritten Geschlecht“ zugute.

Positiv eine dritte Eintragungsmöglichkeit zu schaffen, stellt eine innerhalb der kurzen Frist realistischere und aktuell vorzugswürdige Lösung dar. Als Minimallösung könnte § 21 I Nr. 3 PStG klarstellen, dass die Eintragung des Geschlechts neben „männlich“ und „weiblich“ auch (z.B.) „nicht-binär“ vorsieht. § 22 III PStG müsste „kann“ statt „ist“ lauten. Es gäbe dann vier Möglichkeiten: Die positive Eintragung (§ 21 I Nr. 3 PStG) als männlich, weiblich, nicht-binär (o.ä.) und die Nichteintragung des Geschlechts (§ 22 III PStG). Im BGB müssen die Regelungen zur Abstammung und zum Eherecht angepasst werden. Die vorhandenen Lücken bzw. Ungereimtheiten[12] werden allerdings bereits als Folge der Öffnung der Ehe und der Einführung von § 22 III PStG überarbeitet. Auch bilden zwei Gutachten, die im Auftrag des BMFSFJ erstellt wurden und Vorschläge für Gesetzesreformen machen, gute Ausgangspunkte für weitere Überlegungen (eine Online-Fassung ist hier einsehbar).[13]


Dr. Susanne Lilian Gössl, LL.M. (Tulane) ist Akademische Rätin am Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Familienrecht an der Universität Bonn und Habilitandin an diesem Institut.

[1] BGH, Beschluss v. 22.6.2016 – XII ZB 52/15 FamRZ 2016, 1580, siehe dazu https://www.abstammungsrecht.eu/felicitas-weber-intersexualitaet-und-das-personenstandsregister-ein-seiltanz-zwischen-verfassungskonformitaet-und-dem-willen-des-gesetzgebers/.

[2] Ls. 1.

[3] st. Rspr. z.B. BVerfG, Beschluss v. 11.10.1978 – 1 BvR 16/72 NJW 1979, 595-596 Rn. 50; BVerfG, Beschluss v. 11.1.2011 – 1 BvR 3295/07 StAZ 2011, 141, 141; BVerfG, Beschluss v. 15.8.1996 – 2 BvR 1833/95 NJW 1997, 1632, 1633; BVerfG, Beschluss v. 26.1.1993 – 1 BvL 38/92 u. a. NJW 1993, 1517, 1517; BVerfG, Beschluss v. 16.3.1982 – 16.3.1982 NJW 1982, 2061, 2062.

[4] Rn. 45-47, bereits BVerfG, Beschluss v. 11.10.1978 – 1 BvR 16/72 NJW 1979, 595-596, Rn. 55 f.

[5] Rn. 45 f. m.w.N.

[6] Rn. 43 m.w.N.

[7] Zur Dogmatik des Begriffs „Geschlecht“ in Art. 3 GG siehe http://verfassungsblog.de/struktur-und-teilhabe-zur-gleichheitsdogmatischen-bedeutung-der-dritten-option/

[8] Rn. 57; Gössl NZFam 2016, 1122, 1123 f.

[9] Rn. 49 f.

[10] Goessl JPrivIntL 2016, 261 ff.; Helms, in: Götz/Schwenzer u.a. (Hrsg.), FS Brudermüller, München, 2014, S. 301, 308.

[11] Z.B. §§ 15 Abs. 1 Nr. 2, 31 Abs. 1 Nr. 2 PStG, § 15 Abs. 1 Nr. 6 WPflG, § 4 Abs. 1 Nr. 6 PassG, § 49b Abs. 1 Nr. 1 lit. c AufenthG, §§ 4 Abs. 2 Nr. 5, 64 Abs. 1 Nr. 5,  69 Abs. 1 Nr. 1 lit. f AufenthV, § 34 Abs. 2 Nr. 2 BBiG, §§ 118 Abs. 1 Nr. 4 S. 2, 122 Abs. 1 Nr. 1 lit. a SGB XII, §§ 49 Abs. 1 Nr. 1, 57 Abs. 1 Nr. 1, 59 Abs. 1 Nr. 1 FeV, § 2 Abs. 6 Nr. 1 StVG, § 3 Abs. 1 Nr. 4 AZRG, § 23 Abs. 1 . 2 WoGG, § 139b Abs. 3 Nr. 9 AO, § 23 Abs. 1 Nr. 1 ArbSchG, § 1 Abs. 1 Nr. 12 BKADV, § 3 Abs. 1 Nr. 1 lit. a ATDG, § 16 Abs. 1 Nr. 1 GüKG, § 65 Abs. 3 Nr. 1 LuftVG.

[12] Dethloff, Familienrecht, München, 31. Aufl. 2015, § 3 Rn. 13 f.; § 7 Rn. 9; § 10 Rn. 6 f.

[13] Althoff/Schabram/Follmar-Otto, Geschlechtervielfalt im Recht, Januar 2017; Adamietz/Bager, Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen, November 2016.

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